biographische Notiz

Der Philosoph Jörg Splett:
ein dialogisches Porträt

Hanns-Gregor Nissing im Gespräch mit Jörg Splett, in: Nissing: Der Mensch als Weg zu Gott. Das Projekt Anthropo-Theologie bei Jörg Splett, München 2007

 

I. Wurzeln (1936-1956)

Herr Professor Splett, ein erster Blick auf die äußeren biographischen Daten legt es nahe, in Ihrem Leben drei Zeiten zu unterscheiden, die zugleich dem geographischen Schwerpunkt nach verbunden sind mit drei verschiedenen Orten: zunächst mit dem Rheinland, wo Sie mit Ihren Eltern und Ihren Geschwistern ab 1946 gelebt haben und von 1947 bis 1956 zur Schule gegangen sind; dann mit Pullach und München, Orten Ihrer Studien, Ihrer Promotion und Habilitation; schließlich mit Offenbach und Frankfurt/ M., wo Sie seit 1971 leben und an der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Georgen als Professor lehren. Ich möchte Ihnen daher vorschlagen, in drei Etappen Wurzeln (1936-1956), Werden (1956-1971) und Werk (ab 1971) zu betrachten und den geistigen und geistlichen Prägungen nachzugehen, die Sie auf diesem Weg empfangen haben. – Sie sind im Rheinland aufgewachsen, aber geboren in Magdeburg...

Das Rheinland war tatsächlich erst die letzte Station. Daß ich in Magdeburg geboren wurde, war mehr oder weniger Zufall. Mein Vater war dort für zwei Jahre Referendar am Gericht. Bald danach sind wir nach Berlin umgezogen und haben von 1938 bis 1945 in Friedenau gewohnt – nur waren wir die längste Zeit über nicht in Berlin, weil 1939 die Kriegsereignisse begannen. Mein Vater wurde eingezogen, er war in Frankreich, in Rußland, zum Schluß dann in Norwegen, und meine Mutter ist mit uns Kindern immer wieder von Berlin ausgewichen, z.B. ins Erzgebirge, wo eine Schwägerin ein Kinderheim leitete, oder nach Leipzig, wo ihre Eltern wohnten. Dort bin ich 1942 eingeschult worden, ehe wir wieder nach Berlin zurückkamen. Im selben Jahr nahmen dort die Bombenangriffe zu. Zu dieser Zeit habe ich zum ersten Mal Tote gesehen, morgens, zusammengeschrumpft und verbrannt – und das Schreien in den Kellern gehört. Diese Nächte waren sehr prägend.
1943 wurde Berlin schließlich evakuiert: wir nach Ostpreußen. Wir kamen auf Umwegen ins Haus eines Dorflehrers bei Lyck und sind dort liebevoll versorgt worden. Paradiesisch für uns Kinder war der Maikäferreichtum im Frühjahr. Als die Front näherrückte, wurden wir noch einmal evakuiert: ins Sudetenland. Nach einem knappen Jahr in Zwittau mußten wir erneut, nun schon nicht mehr geordnet amtlich, fliehen, die Mutter mit uns fünf Kindern, ich der Älteste. Ein Treck von rund 20 Lastwagen wollte sich durch die Tschechoslowakei nach Deutsch­land durchschlagen. Auf der Fahrt gerieten wir jedoch unter Partisanenbeschuß. Und schließlich erreichten zwei oder drei Lastwagen ein US-Gefangenenlager. Der Kommandant gab den Soldaten und Flüchtlingen sein Ehrenwort, uns nicht den Russen auszuliefern. Doch drei Tage später fuhr der letzte Amerikaner über den Hügel weg; die Rote Armee übernahm das Lager und führte sich entsprechend auf – bis zur Übergabe an die Tschechen. Im neuen Lager brach zudem die Ruhr aus.
Aber wir haben es geschafft. Schließlich durften wir über die Grenze laufen. Wir hatten damals zwei Kinderwagen, den einen schob meine Mutter, den anderen ich. Der jüngste Bruder war gerade 11 Monate. Wir kamen nach Österreich und hatten schrecklichen Hunger. In den Taschen von toten Soldaten habe ich nach Brot gesucht. Und meine Mutter kaute es für den kleinen Jan vor. Doch umsonst. Meine Mutter und ich haben ihn in einem Karton am Straßenrand begraben (später kam es zur Übertragung auf den Dorffriedhof).
Mit 8 ½ Jahren war für mich damit die Kindheit zu Ende. Die Fragen, die sich danach gestellt haben, sind sicherlich eine Quelle dafür, daß ich Philosoph geworden bin: Was ist das für ein Gott, der so etwas zulassen kann? Wie kann denn das alles sein? – Was außerdem wichtig ist: Durch die Evakuiererei steckt in mir eine weitgehende Unfähigkeit zum Leben in Gruppen oder Gemeinschaften. Denn – außer damals in Ostpreußen – habe ich Gruppe so erfahren, wie sie René Girard beschreibt: als Lynchkreis. Das hatte später dann auch Konsequenzen für die Ordensfrage. Was ich suche, ist ein unmittelbares Mit-Gegenüber.

Wie ging der Weg von Österreich aus weiter?

Nun, wir schleppten uns auf Fuhrwerken, zu Fuß, mit irgendwelchen Zügen durch Deutschland und kamen schließlich nach Leipzig. Die Großeltern lebten, ihre Wohnung in einem der we­nigen noch erhaltenen Häuser der Straße. So waren wir bei ihnen erst einmal untergebracht.
Dann übergaben auch dort die Amerikaner das Kommando an die Truppen der UdSSR. Nach den Flucht-Erlebnissen war für die Mutter keines Bleibens mehr. Die Kinderheim-Oberin hatte sich während ihrer Ausbildung auf einem Gut im Erftland um die Kinder gekümmert, und die waren nun bereit, uns aufzunehmen. Die Bürokratie funktionierte noch nicht so recht. So sind wir zu Weih­nachten 45 mit einem Papier voller Stempel in einem offenen Güterwagen (den nicht alle überlebten) nach Köln gekommen.
Mein Vater war derweil noch in Kriegsgefangenschaft in Norwegen. Er war Luftwaffenrichter gewesen. Weil seine Urteile überprüft werden mußten, zog sich seine Rückkehr hin, so daß er noch etwa ein Jahr lang in Norwegen war. Es war für ihn eine sehr wichtige Zeit der inneren Exerzitien. Anfang 1947 wurde er dann zu uns entlassen.

Ihr Vater war Jurist und wurde später Senatspräsident am Oberlandesgericht in Köln, ein Vetter Ihres Vaters war Bischof in Danzig. Wie würden Sie den familiären Kontext charakterisieren, aus dem Sie stammen, und die Prägungen, die Sie von dort erhalten haben?

Die „Kultur“ in der Familie war gemischt. Väterlicherseits die Geisteswissenschaft. Der Großvater war Zentrumsabgeordneter in Halle und Rektor der dortigen katholischen Grundschule. Von den neun Geschwistern meines Vaters wollte der Älteste eigentlich Theologie studieren. Vater selbst wählte das wenig geliebte Recht, weil es das billigste Studium war. Aber an Literatur, Musik und Kunst bin ich von ihm herangeführt worden.
Die „Oma Leipzig“ war Belgierin und gelernte Lehrerin; aber die Familie war technisch geprägt. Der Großvater war an leitender Stelle mit der Elektrifizierung der Bahn befaßt; ähnlich nach dem Krieg sein Ältester bei der Vorgebirgsbahn im Siebengebirge. Meine Mutter, die Zweitgeborene, hatte eigentlich Physik studieren wollen und bei der Firma Osram ein Praktikum gemacht. Doch verheiratet, meinten ihre Eltern, müsse sie nicht auch noch studieren. Sie war zudem sehr sportlich und hat einmal die Bezirksmeisterschaft im Speerwerfen gewonnen. Anders die phantasiereichen drei jüngeren Tanten, wichtig war für mich Gabriele Schieb (Herausgeberin u. a. von Heinrich von Veldekes Eneide), die mit mir Logik-Spiele trieb (Was ist das Gegenteil von Groß, von Rot usw.?).
Geprägt hat mich der Diasporakatholizismus, für den man Opfer brachte: Weite Wege zur Sonntagsmesse, Morgen-, Abend-, Tischgebet... So fanden wir den rheinischen Katholizismus in seiner Lockerheit schon etwas verwunderlich… Den bischöflichen Onkel lernten wir erst nach seiner Freilassung aus polnischer Haft kennen. Er wohnte dann in Düsseldorf und im Dezember gab es ein Familientreffen bei ihm (sein Bischofsspruch lautete übrigens: „In Trinitate robur“!)

Sie waren drei Jahre alt, als der Krieg begann, und fast neun, als er zu Ende ging. Wie verarbeitet man die frühen Erlebnisse, die Sie beschrieben haben?

Wir haben wenig darüber geredet. Vieles habe ich auch verdrängt. Auf behutsame Gesprächsangebote meines Vaters bin ich nicht eingegangen. Richtige Diskussionen habe ich dann mit den Jesuiten auf dem Internat in Bad Godesberg angefangen.

Als Ihre Lieblingsbeschäftigung haben Sie immer wieder das Lesen genannt. Was waren die ersten Bücher, die Sie gelesen haben? Welches Ihre ersten Lektüreerfahrungen?

Märchen, Sagen... Ich habe eigentlich alles und unentwegt gelesen – vor allem auch Verbotenes. Mein Vater hatte bald eine Anstellung beim Diözesancaritasverband erhalten, so daß er den ganzen Tag über in Köln war. Meine Aufgaben waren im Nu gemacht, und so habe ich in seinem Bücherschrank gelesen. Wichtig, ganz hinten versteckt gefunden: der SS-Staat von Eugen Kogon.
Überhaupt habe ich eine Unmenge an Büchern gelesen, von denen die Erwachsenen gesagt hätten, es sei zu früh. Auf der Unterstufe habe ich etwa alles von Graham Greene gelesen, was mir in die Finger kam. Seine Bücher sind ja nicht gerade Kinderlektüre – aber Kind war ich ja auch nicht mehr! Dostojewski! Shakespeare! Und natürlich las ich die deutsche Literatur. Das Lesebuch der Schule hatte ich schon am Anfang des Jahres aus. An besondere Leseerlebnisse kann ich mich allerdings nicht erinnern. Es war vielmehr quer durch alles Mögliche.
Ich erinnere mich noch, daß ich meiner Mutter beim Bügeln das Tagebuch des Landpfarrers von George Bernanos vorgelesen habe. Mit 12 oder 13 Jahren habe ich gedacht: „Das wäre vielleicht ein Weg. Auf Erden ist ja doch alles schrecklich. Wenn schon, dann geradewegs hindurch zum Ziel.“

1947 führte Sie Ihr Weg zunächst ins Aloisius-Kolleg in Bad Godesberg...

Ja, das Gymnasium stand an, und es gab keinen anderen Weg als ins Internat, denn der Weg zum Bahnhof Weilerswist, von dort nach Köln und durch die zerbombte Stadt zum Gymnasium wäre zu weit gewesen. So gehörte ich zu dem Schub, der im zweiten Jahr im Aloisius-Kolleg anfing.

Wie hat man sich das Klima vorzustellen auf einer Jesuitenschule zwei Jahre nach Kriegsende? Was war das für eine Atmosphäre, in die Sie hineingekommen sind?

Ich fand die Atmosphäre fürchterlich. Wir waren zu 30 Jungen in einem Riesenschlafsaal untergebracht (der Erzieher, ein Jesuitenpater, hatte zwar einen weißen Vorhang um sein Bett, schlief aber mit im selben Raum). Ich bin geradezu vergangen vor Heimweh – zumal auch die Heimfahrt an Besuchstagen zu weit gewesen wäre. Weil ich meine Fragen und Probleme hatte, zudem sehr gut in der Schule war, mit einem guten Verhältnis zu Lehrern und Erziehern, war ich bei den Klassenkameraden nicht eben beliebt. Zwar hatte ich einzelne Freunde, doch im ganzen fand ich das Klima belastend und habe immer die Ferien herbeigesehnt und bin auch stets mit Kummer zurückgefahren in den „Massenbetrieb“.
Die Erziehung selbst war recht streng. Wenn zum Beispiel ein Einzelner etwas getan hatte und sich nicht meldete, erhielten alle zusammen ein Strafsitzen. Es gab Zeiten des Stillschweigens, in denen man zu arbeiten hatte, und es gab Zeiten, in denen man zu spielen hatte. Man mußte in Reihen marschieren. Der gesamte Tag war durchgliedert: morgens aufstehen, dann Messe, Frühstück, dann rüber in die Schule, dann Mittagessen, kurze Pause, Studienzeit, Sportzeit, dann noch einmal Studienzeit, nach dem Abendessen abends noch etwas Freizeit. Dieses ganze strenge Reglement habe ich als sehr belastend empfunden. Die Lehrer, Kriegsheimkehrer, waren durchweg gut, streng, väterlich. Einzelne Patres gütig. Bei einigen älteren gab es noch den alten Jesuitenstil, der den Lehrer als „Dompteur“ verstand.
Ein Hafen war der Pater Spiritual. Die Präfekten unterschieden sich nach Persönlichkeit und Führungsstil. Vor allem mit den jüngeren Jesuiten konnte ich meine Fragen bereden.

Und es begannen die Diskussionen, von denen Sie bereits gesprochen haben?

Für mich kam es in jener Zeit sogar zu einer Verabschiedung vom Glauben – zu einem „pubertären Atheismus“. Ich las Benn, den (von vielen unbemerkt) antichristlichen Rilke, Nietzsche natürlich, die Existentialisten, Sartre, Camus. Es hatte sich der Blick geschärft auf die Erziehung der Jesuiten, den Umgang mit reichen Schülern (ich hatte ein Stipendium), die damit gegebene „Heuchelei“ (in Theodor Haeckers Alternative von Heuchelei und Schamlosigkeit plädiert Jugend ja eher für das zweite). In diesen Jahren dachte ich sehr zynisch. Ich hatte mir ein System zusammengebaut, ohne daß ich es jetzt noch näherhin beschreiben könnte. Es waren wohl Gedanken, wie ich sie später bei Max Scheler gefunden habe: der Drang zum Leben sei das Eigentliche, und das Böse sei es, das sich in der Welt durchsetzt usw.
Dann kam es zu einem langen Nachtgespräch mit einem Freund, der in dieser Diskussion einfach standhielt. Er reichte intellektuell nicht an mich heran, aber er sagte einfach: „Ich glaube trotzdem, und Deine Gründe reichen nicht aus“. Es war somit weniger ein Argument, als seine Standhaftigkeit, die mich überzeugte. Dieses Gespräch hat ihn so mitgenommen, daß er hinterher richtig krank wurde. Und ich habe mich daraufhin bekehrt.

Wie sah dieser Schritt konkret aus?

Da ich mich engagieren wollte, meldete ich mich bei der Marianischen Kongregation, die es als Möglichkeit im Internat gab. Mein Gruppenführer war P. Hoenisch, der später die Katholischen Pfadfinder Europas gegründet hat. Er hatte schon damals eine unglaubliche Begabung, mit Jungen umzugehen. Wir haben ihn vergöttert, und er hat uns mit seiner Frömmigkeit enorm geprägt.
Bald darauf übernahm ich selbst eine Gruppe und fand das ganz toll. Für die Schule mußte ich nicht sehr viel tun. (Inzwischen war die Familie nach Köln umgezogen, zwei jüngere Brüder kamen aus dem Internat nach Hause; ich hatte die Wahl und entschied mich nun für das „Ako“ mit seinen Möglichkeiten.) Neben Lesen und Malen habe ich mich vor allem um meine Gruppe gekümmert, in dem pädagogischen Eros, der mich schon als Ältesten der Geschwisterschar kennzeichnete (nach dem Krieg kamen zu uns älteren Vier noch vier jüngere Geschwister).

Wenn es zuvor Literatur war, mit der Sie Ihren „pubertären Atheismus“ unterstützt haben, welche Bücher haben Sie nun nach Ihrer „Bekehrung“ geprägt?
Es waren in erster Linie wiederum die Schriftsteller, vor allem der schon genannte Bernanos. Ich bezeichne ihn gern als „französischen Dostojewskij“. Sicherlich war das Tagebuch eines Landpfarrers ein ganz wichtiges Buch für mich. Aber auch seine anderen Bücher. Dann Péguy mit seiner Liebe zu Chartres. – Die Deutschen: Werner Bergengruen, Gertrud von Le Fort, Reinhold Schneider, Edzard Schaper – alles, was später als „christliche Literatur“ abgetan werden sollte. Sie boten eine Verbindung von Theologie und gelebtem und existentiell erfahrenem Glauben, die man sonst nirgends fand. Dazu kamen die Heiligenbiographien, die jesuitischen Märtyrer, die Missionare. Daraus habe ich gelebt.

Was waren die wichtigsten Erfahrungen Ihrer Zeit auf dem Internat?

Großen Einfluß hatten vor allem die Präfekten. Nach ihrem Philosophiestudium hatten die jungen Jesuiten auf dem Internat ein Praktikum zu machen, bevor sie in die theologischen Semester gingen. Sie brachten auch ihre persönlichen Interessen ein. Der eine gründete einen kleinen Philosophiearbeitskreis, bei einem anderen wurde Lyrik gelesen – oder Theaterstücke.
Im Theaterkreis stellte ich eine Deutung des Ödipus als Gottes-Flüchtling vor. Daraufhin spielten wir das Stück mit mir in der Titel-Rolle. Ein Rezensent meinte sogar, meine Zukunft liege vielleicht in der Schauspielerei.
Was die Literatur betrifft, so ist Rilke der Dichter meiner Jugend gewesen. Als Oberstufler wohnten wir im Schlößchen, das der Industrielle von der Heydt den Jesuiten mit dem ganzen Grundstück verkauft hatte und das als „Stella Rheni“ zum Internat gehörte. Rilke, wiederholt auf dieser „Wacholderhöhe“ zu Gast, hat dem Ehepaar Teil I der Neuen Gedichte gewidmet. Doch gab es nicht bloß Rilke. In der Abiturzeitung hieß es von mir: „Suche neue Lyrik, um mich dafür zu begeistern.“
Ich habe damals auch viel gezeichnet. Der Zeichenlehrer, ein Schüler des „Zigeuner-Müller“ der „Brücke“, riet mir zum Studium an der Akademie. Mein erstes Geld habe ich für ein Logo verdient, das ich für den Briefkopf der Initiative „Frieden über den Gräbern“ entworfen hatte, die P. Rieth seinerzeit begründet hatte. – Weniger Sinn hatte (und habe) ich, bei aller Liebe, für die Musik. Die Patres haben mir umsonst Klavierunterricht geben lassen. Ich muß zu meiner Schande gestehen, daß ich kaum geübt habe und nach zwei Jahren davon befreit wurde. Später habe ich das oft bedauert.

Vor allem die menschlichen Kontakte waren in der Godesberger Zeit für mich sehr wichtig – mit jüngeren und vereinzelt auch mit älteren Jesuiten. Zum Teil sind Lebensfreundschaften daraus entstanden, z.B. mit P. Lentzen-Deis, der später auch maßgeblich daran mitgewirkt hat, daß ich nach St. Georgen kam. Oder mit P. Erlinghagen, nachmals Professor für Pädagogik in Regensburg. Er hat mich als Quintaner kennengelernt und meinen Weg das ganze Leben hindurch begleitet.

Wie kam es zu Ihrem Entschluß, in den Jesuitenorden einzutreten?

Nun, ich habe mir gedacht: „Wenn schon, denn schon“. Und wie Ignatius in seinen Konstitutionen schreibt: „in Eilmärschen zum Himmel marschieren“. – Dabei war das erwähnte Nachtgespräch sicher eine Wurzel. Ich habe mir daraufhin gesagt: „Jetzt mache ich ernst“. So war ich ja zunächst in die Marianische Kongregation eingetreten und hatte mich Maria geweiht; der Ordenseintritt war daraufhin eigentlich die logische Fortsetzung. Denn ich sagte mir: „Wenn, dann das Ganze“. – Deswegen auch die Entscheidung für die Philosophie: wegen ihrer Radikalität. Auch die Literatur habe ich ja auf diese Radikalität hin gelesen.

Ein anderer Orden oder ein Leben als Weltpriester wäre für Sie also nicht Frage gekommen?

Mein Vater hatte mehr für die Benediktiner übrig. Er sagte: „Die Benediktiner sind gerundete und kulturvolle Menschen, während die Jesuiten etwas Gehetztes, Modernes, Sperriges haben“. – Das stimmt – auch. Der ignatianische Entwurf (des „contemplativus in actione“) ist neuzeitlich und von einer Spannung, die ich stärker vom Scheitern bedroht sehe. Aber diese Eigenart kam mir auch entgegen. An etwas anderes hätte ich nie gedacht.

Hatten Sie eine Vorstellung von Ihrer späteren Tätigkeit im Orden oder einen Wunsch, welchen Bereichen Sie sich als Jesuit widmen wollten?

Als Jesuit hat man keinen Wunsch zu äußern, den der Orden zu erfüllen hätte – mit der einen Ausnahme, daß man in die Mission gehen will. Was ich mir erträumte, war natürlich schon, in der Philosophie oder der Theologie zu lehren – und zwar lieber noch in der Philosophie, in der gemeinsamen Sprache von Gläubigen und Ungläubigen, wo es darum ging, zu begründen und zu vermitteln. – Aber davon war zunächst einmal keine Rede. Man sollte ja demütig sein – je nachdem, was sich ergab. Schließlich konnte man ja auch Lehrer werden an einem der Kollegien. Man überließ es ganz dem Orden. Die Frage war zunächst nur: „Gehöre ich überhaupt hierhin? Kann ich überhaupt in diesem Stand und diesem Orden leben?“

weiter zu II. Werden (1956-1971)

 

 

Das vorstehende werkbioraphische Gespräch ist in gedruckter Form in der Publikation "Der Mensch als Weg zu Gott. Das Projekt Anthropo-Theologie bei Jörg Splett" (Hrsg: HG Nissing, München 2007) enthalten.